
Leiden bei der Paris-Roubaix Hommage
Wenn ich an Klassiker des Radrennsports denke, kommt mir als allererstes der Mythos Paris-Roubaix in den Sinn. Ein epischer Ritt von Compiegne bis ins Velodrom nach Roubaix. Der Spitzname „Hölle des Nordens“ kommt nicht von ungefähr. So ein Titel muss sich erstmal verdient werden. Dreckverkrustete Männer, die sich durch Staub, Matsch und über den berüchtigten Kopfsteinpflaster-Passagen, den Pavés, kämpfen. Kopfsteinpflaster, oft gerne als Kindskopfgroß beschrieben. Mit Lücken dazwischen, in den Menschen verschwinden können und die Profis früher in der Anfangszeit mit 23 mm breiten Reifen darüber flogen.
Die 27 Pavés sind oftmals Scharfrichter über Sieg und Niederlage. Wer hier abgehängt wird, steckt in echten Problemen. Stürze, Verletzungen und Schmerzen sind quasi an der Tagesordnung. Nur die härtesten Fahrer kommen durch, der Rest des Pelotons ist mental und körperlich meist gebrochen. Nachdem es Johan Museeuw 1998 im Wald von Arenberg dermaßen zerlegte, musste er sogar eine Amputation seines linken Beins auf Grund einer Infektion befürchten. Zum Glück kam es dann aber nicht so weit.
DIESES RENNEN IST EIN WITZ. DU SCHUFTEST WIE EIN TIER. DU HAST NICHT MAL ZEIT ZU PINKELN, SONDERN MACHST DIR IN DIE HOSE. DU RUTSCHST DURCH DEN SCHLAMM. ES IST EIN HAUFEN SCHEISSE. Direkt danach auf die Frage, ob er das Rennen nochmal fahren würde: JA, DENN ES IST DAS WUNDERVOLLSTE RENNEN DER WELT“.
Theo de Rooy, u.a. achtmaliger Teilnehmer der Tour de France
Paris-Roubaix ist Fluch und Segen zugleich. Die Fahrer werden vor Beginn heroisch-triumphal gefeiert, hier werden die Stars des Radrennsports aber erst zu Göttern geformt. Wer sich seinen Körper über 54 Kilometer über unförmiges Kopfsteinpflaster und rund 250 Kilometer Gesamtlänge derartig unsanft malträtieren lässt, das einem die Gesichtszüge entgleiten, der muss schon verrückt sein.

Die Geschichte dieses erstmals 1896 ausgetragenen Radrennens ist heute oft ein verklärter heroisch-romantischer und epischer Blick. Der Faszination Paris-Roubaix kann man sich nicht entziehen. Wer einmal „A Sunday In Hell“ im Fernsehen oder sonst wo gesehen hat, das dramatisch von einem Chor voller Inbrunst geschmetterte Roubaix-Lied gehört hat, das eher nach russisch-sibirischen Soldaten-Chor klingt, der kann erahnen, welcher Helden-Epos jedes Jahr im April im Norden Frankreichs stattfindet. Ach so, das Lied stammt im übrigens dann doch von dem dänischen Komponisten Gunnar Møller Pedersen.
A Day In Hell
Auch ich kann mich der Dramaturgie nicht entziehen. Daher freute ich mich sehr, als ich die Info bekam, dass in Anlehnung an den Radklassiker das wunderbare Kult-Radcafé und Schrauberbude SCHICKE MÜTZE aus Düsseldorf zusammen mit Rapha-Berlin eine echte Hommage an Paris-Roubaix auf die Beine gestellt hatte. Ganz Corona-Konform wurde im Düsseldorfer Umland ein Track gescouted, den man nach Anmeldung am eigentlichen Wochenende des Radklassikers frei für sich fahren konnte. Knappe 110 Kilometer mit satten 2100 Höhenmetern standen einem bevor.
Fast schon ein Wermutstropfen war das dann doch fehlende Kopfsteinpflaster, dass sich hier halt regional bedingt nur auf eine handvoll Meter beschränkte. Doch der Rest sollte es in sich haben und Paris-Roubaix alle Ehre machen! Und uns an unsere Grenzen bringen. Denn allein der Wettergott gab alles, um uns den gnadenlosen Rad-Wahnsinn so naturgetreu wie möglich spüren zu lassen. Die Hölle des Nordens brach ab Meter eins über uns herein!

Viele heutige und ehemalige Radprofis beschrieben Paris-Roubaix genau so. Als einen fürchterlichen Akt von Quälerei und Schmerzen, aber dennoch als unfassbar faszinierend. Marc Madiot, der dieses Radrennen gleich zweimal gewann (einmal als Amateur 1979 in der U23 und dann als Profi 1985) sprach davon, „das jeder ein Überlebender ist, der ankommt!“ Wer ankommen möchte, muss seine Maschine perfekt beherrschen. Das Kopfsteinpflaster wird zur unberechenbaren Rutschpartie, ein Tanz auf Matsch und einen Stakkato von nicht mehr zählbaren Schlägen, die auf die Fahrer bis zur Besinnungslosigkeit eindreschen.
So schlimm kam es für uns dann zwar doch nicht. Doch nach den ersten fünfzig Metern wartete auch gleich der längste und härteste Anstieg des Tages auf uns. Die Straße führte steil über weit einen Kilometer bergauf. Über 13 Prozent zeigte mir mein Wahoo an. Dass wir unbeholfenen Amateure uns ja nicht mal warm gefahren hatten, spricht für unsere Einfältigkeit. Unser Vierer-Fahrfeld war recht schnell weit verstreut und als wir oben angekommen waren, empfing uns direkt nach Verlassen der Ortschaft feinster Nebel und Nieselregen. Eine Atmosphäre, die nicht hätte besser sein können für die zu fahrende „Themen-Route Paris-Roubaix“.
„IM FINSTEREN WINKEL FRANKREICHS,WO DAS KOPFSTEINPFLASTER HERUMSPUKT, BEGANN EIN JUNGE AUS GELDERLAND ZU SPRINTEN. EINE HALBE STUNDE SPÄTER DRANG DURCH EINE MASKE AUS SCHLAMM UND KUHSCHEIßE EIN FEINES LÄCHELN. ICH SCHLOSS DIE AUGEN UND HÖRTE DIE MATTHÄUS-PASSION AUF RÄDERN.“
Hugo Camps, niederländischer Journalist, über den Sieg von Servais Knaven bei Paris-Roubaix. Quelle: Covadonga-Verlag

Das Wetter beim Radrennen Paris-Roubaix, das normalerweise am zweiten Sonntag im April stattfindet, kann durchaus wie ein Faustschlag in die Magengrube wirken. Die fiesen Winde in der Ebene kosten mächtig Körner. Wenn Regen dazu kommt, kann es im wahrsten Sinne des Wortes eine Schlammschlacht werden. Unvergesslich das Foto von Wilfried Peters aus dem Jahre 2001. Man konnte unter dieser dicken Schicht aus Dreck nicht mal mehr erkennen, dass ein Mensch da auf dem Rad saß! Fast schon ein kleiner Wermutstropfen für die Fans: die letzte Schlammschlacht fand im Jahre 2002 statt, bei allen anderen Austragungen danach trocknete es rechtzeitig wieder ab!
Sollte es dagegen also mal trocken sein, saugen die Fahrer dunklen Staub in ihre Lungen, der sich dazu auch auf ihre verschwitzte Haut legt und dafür sorgt, das der Teint schön grau-braun-dreckig wird. Die Augen dabei quellen aus dem Schädel hervor, blutunterlaufen. Egal, wie das Wetter daher wird, die Widrigkeiten können echt extrem sein.

Wir waren dann doch schnell auf Betriebstemperatur angelangt. Es rollte sich zunächst ganz passabel. Die Schickemütze hatte angeraten, auf mindestens 28 mm breiten Reifen zu fahren. Ich wolle es erst mit meinen 25er versuchen, aber war dann letztendlich froh, das Gravelbike mit 35 mm genommen zu haben. Schnell wurde klar, das einige kurze Abschnitte den schmalen Reifen wahrscheinlich zügig den Garaus gemacht hätten. Ich hatte somit etwas Komfort gewonnen. Der einzige, an diesen harten Tag.
Es war ein ständiges Auf und Ab. Beim Blick auf die Karte der Höhenmeter war schon deutlich zu sehen gewesen, dass es eher nach einer zackigen Herz-Rhythmus-Kurve aussah, die es zu fahren galt. Geschwindigkeit gab es nur bei Abfahrten, da aber mit Schuss. Genau mein Ding. Wichtig war aber, nicht direkt am Anfang alle Körner zu verpulvern. Eine Rampe folgte nach der anderen. Schnell sammelten sich die Höhenmeter an. Ich war froh, dass sich meine Beine an diesem Tag gut anfühlten. Am Anfang spürte ich sie noch, später schluckte die Kälte einfach alle Gefühle und ich kurbelte einfach nur noch taub immer weiter.

Mit welcher unvorstellbaren Geschwindigkeit die Fahrer bei Paris-Roubaix über die Buckelpisten flitzen, kann man fast nicht glauben. Teilweise 60 km /h und mehr, wenn auf die Pavés eingebogen wird! Legendär und unzertrennbar mit diesem Radrennen ist da der Abschnitt „Trouée d’ Arenberg“ zu nennen. Der Wald von Arenberg, hier ist die eigentliche Hölle des Nordens zu finden. Die Geschichte dieses Stücks fast perversen Kopfsteinpflasters ist ein unverrückbares Vermächtnis.
Paris-Roubaix bekommt endgültig seinen Legendenstatus
Waren es am Anfang noch über 260 Kilometer härteste Pflastersteine, wurden es durch modernen Asphalt in den 1950er und 1960er Jahren immer weniger. 22 Kilometer erbärmliche Kilometer blieben übrig, die Einzigartigkeit schien beendet zu sein. Jean Stablinsiki, ehemaliger Weltmeister von 1962, wurde beauftragt, übriggebliebene Kopfsteinpflasterpassagen zu finden, da er die Gegend wie seine Hosentasche kannte.
Er wusste sofort, wo er fündig wird. Im Wald von Arenberg, bei den dortigen Minen. Er selber hatte dort früher malocht, kannte also die Strecke und schlug den Abschnitt vor. Jacques Goddet musste als Chef vom Dienst diesen Pavé absegnen, hielt ihn zunächst aber als viel zu gefährlich und unmöglich zu fahren. Doch die Legende nahm ihren Lauf und im Jahre 1968 war es dann so weit. Die Premiere dieses Pavés stand an.

Der Abschnitt im Wald von Arenberg ragt vor allen anderen heraus. Diese irre lange Gerade, diese Schneise durch den Wald. Die alten Fördertürme ganz in der Nähe. Monster und Schönheit zugleich. Eingerahmt von Bäumen und der Eisenbahnbrücke, die erhöht über das Kopfsteinpflaster thront. Ein Bild, so grandios, so wunderschön und doch so furchteinflößend für jeden Fahrer.
2,4 Kilometer Kopfsteinpflaster im denkbar schlechtesten Zustand. Tiefe Furchen und zerklüftete Lücken, die Steine unterschiedlich und unregelmäßig hoch. Jeder von ihnen ein anderer Schlag auf den Reifen, der in seinen Wellen durch den ganzen Körper fährt. Fürchterliche Erschütterungen, die da von unten auf die Fahrer einwirken. Defekte an den Rädern gibt es zuhauf. Ganz martialisch wird dieser Teil auch „La Tranchée“, „der Schützengraben“, genannt. Paris-Roubaix wäre nur die Hälfte an episch, würde es den Wald von Arenberg nicht geben.

Ich und meine anderen Mitstreiter dieses ehrfurchtsvollen Ritt in Anlehnung an eines der härtesten Radrennen überhaupt, durch Nieselregen und einer wahrscheinlich irre schönen Landschaft (hätte man sie sehen können) kannten dennoch viele Abschnitte. Ein Teil war sogar fast identisch mit dem Track meines Confidential Ride von September letzten Jahres, nur ging es heute in die andere Fahrtrichtung und bot ganz andere furchterregende Perspektiven.
Die Rampen schmerzten. Irgendwie fast immer. Und immer mehr. Die Szenerie, die sich vor uns ausbreitete, passte perfekt. Oberirdische alte Strommasten auf einem Höhenkamm und die tapferen Männer unserer Ausreißergruppe…das hätte auch im Norden Frankreichs spielen können.

Dazu kam nach der Hälfte der Tour eine Kälte in die Finger, die für mich fast dazu führte abzubrechen. Die ach so gelobten wasserdichten Handschuhe von Sealskinz waren komplett durchnässt. Die Finger schmerzten bereits vor Kälte, sie wurden immer tauber, das Schalten der Gänge wurde zum Glückstreffer und ich bekam es langsam wirklich mit der Angst zu tun. Denn weit und breit gab es keine Möglichkeit, irgendwoher Wärme zu bekommen. Eine Tankstelle bei einer kleinen Ortsdurchfahrt war meine Rettung. Hoffte ich zumindest.

Ein heißer Becher Kaffee, fest mit den Fingern umklammert, sollte mir erste Hilfe leisten. Doch dieser Mist-Becher war nur ökologisch gesehen der heiße Scheiß! Denn er war so gut abgedichtet, dass kaum Wärme bis zu den Fingern durchkam. Ich hätte heulen können und wusste nicht recht, wie ich die weiteren Kilometer ohne Erfrierungen an den Fingern überleben sollte. Bis Jan auf die glorreiche Idee kam: „Diesel-Handschuhe!“ „Was?“ „Ja, Diesel-Handschuhe! Die da an den Zapfsäulen ausliegen.“
Kalt, kälter, am kältesten
Tatsächlich, daran hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Die durchsichtigen dünnen Plastikhandschuhe könnten die Kälte und Feuchtigkeit abfangen. Und daher probierte ich es. Ich steckte meine Hände zuerst in diese dünne Folie und dann wieder in die nasskalten Handschuhe. Ein eigenartiges Gefühl, das muss ich schon sagen. Auch, weil die Plastik-Dinger mir viel zu groß waren. Aber nach ein paar Kilometern spürte ich wieder Leben in den Fingergliedern. Ich war gerettet. Danke Jan, für die übersinnliche Gabe, eins und eins zusammenzuzählen. Einstein hätte seine wahre Freude an dir.
Während wir weiter den tollen Hommage-Track der Schickenmütze folgten, der uns einiges abverlangte, dachte ich an die Bilder aus dem Norden Frankreichs und an die Fahrer, die sich bei ihrer anschließenden Berichterstattung aus der Hölle des Nordens fast über den Mikrofonen der Reporter erbrachen. Jaques Goddet kotzte quasi direkt aufs Mikro drauf, dass hier Bedingungen herrschen, bei denen die Schwelle zur Grausamkeit überschritten wird.

Wir hatten keine Mikros vor der Nase bei unseren Leiden, keine Pavés mit so klangvollen Namen wie Mons-en-Pévèle oder Carrefour de l’Arbre. Wir fluchten still vor uns hin, wenn der nächste Anstieg uns den Himmel nicht mehr sehen ließ. „Was ist das denn für eine Scheisse? Das ist nicht deren ernst!?“ Doch auf die ein oder andere Art und Weise gelangten wir immer oben an. Dann hieß es durchschnaufen, Luft holen, grinsen und wieder weiter. Leider war das doch ziemlich geil. Für den einen von uns mehr, für den anderen vielleicht weniger.
„Langenberg“, „Angertal“, „Aprath“ und „Deilbachtal“ waren unsere Pavés, unsere Hölle des Nordens. Leiden mussten wir bei über 2100 Höhenmetern ganz schön. Die Landschaft wirkte die ganze Zeit auf uns, wie ein echtes Schlachtfeld eines Radrennens. Wie schön es hier bei gutem Wetter sein kann, konnten wir nur schwer erahnen. In Fetzen der Erinnerung und Abschnitten, die ich schon mal gefahren bin, muss es wohl richtig toll gewesen sein. Der Blick war am Ende getrübt. Fix und alle kamen wir wesentlich später als gedacht wieder an den Ausgangspunkt an. Sogar ein Krampf beim Absteigen ließ meinen Unterschenkel erzittern. Das habe ich mir in dem Moment nicht anmerken lassen. Muss ja nicht jeder wissen…

Paris-Roubaix bleibt einzigartig
Leider wurde die diesjährige Austragung von Paris-Roubaix auf den 3. Oktober verschoben. Nun gut, können vielleicht noch mehr Deutsche das Rennen am Feiertag im Fernsehen schauen. Apropos deutsch: die erste Ausgabe dieses Radsport-Monuments 1896 gewann ein Deutscher! Josef Fischer. Erst 119 Jahre später, nämlich 2015, gewann erneut ein Deutscher.
Kein geringerer als John Degenkolb ballerte alles in Grund und Boden. Nach ihm wurde sogar ein Pavé-Sektor benannt! Der Grund: das Juniorenrennen von Paris-Roubaix stand vor dem Aus. John Degenkolb hörte davon und organisierte erfolgreich eine Spendenaktion, nicht ohne selber ein Sümmchen dazu zu tun. Das Juniorenrennen konnte dadurch gerettet werden. Er selber war schon in frühester Kindheit ein Fan von Paris-Roubaix gewesen. Dass er sich damit sein eigenes Denkmal vor Ort und gerade bei den dortigen Radsportfans gesetzt hat, liegt auf der Hand.
Und noch etwas zum Abschluss. Damit Paris-Roubaix auch wohl weiterhin das härteste Radrennen im Profi-Zirkus der UCI World Tour bleibt, gibt es tatsächlich einen Verein, der sich um das geliebte Kopfsteinpflaster kümmert. Die Mitglieder von „Les Amis de Paris-Roubaix“ sorgen dafür, dass auch weiterhin das Peloton auf den Pavés gesprengt wird, Pannen an der Tagesordnung sind und weiter an Legenden- und Heldenstatus gestrickt wird. Merci.

Wer noch weitere Informationen zum wohl härtesten Radrennens der UCI WORLD TOUR sucht, der wird u.a. in diesem Video und auch auf der Homepage des Rennens fündig.
Video PARIS-ROUBAIX für Dummies
Offizielle Seite von PARIS-ROUBAIX
Doku: „Best Of: Paris-Roubaix“ – englisch


2 Comments
Konrad Weyhmann
Subber, muss man wollen!
anbussma
Fetten Respekt